Erwin

Erwin ist mein Freund, nein, wirklich im wahrsten Sinne des Wortes. Wer Erwin und mich kennt, würde sagen: "Das ist doch nicht normal." Stimmt, ist es auch nicht, denn Erwin ist das, was man gemeinhin und landläufig als einen Berber oder Penner oder Obdachlosen bezeichnet. Und trotzdem ist er mein Freund. Erwin hat kein richtiges Zuhause.
Es ist jetzt einige Jahre her, daß mich auf der Straße eine ausgemergelte Gestalt ansprach: "Entschuldigen Sie bitte Herr. Ich bin wirklich in Not." Sein Gesicht spiegelte Verzweiflung, Hunger und Ausweglosigkeit wieder. Er roch streng, nach Angst und tagelang nicht unter der Dusche gewesen aber kein Alkohol."Ich habe normalerweise einen Mantel und einen Schlafsack, ich habe es irgendwo versteckt, aber ich weiss nicht mehr wo..." Tränen traten in seine Augen. Ich merkte, wie peinlich ihm das Ganze war. Ich dachte nach, wie ich ihm helfen konnte, denn das was ich da sah, war nicht gespielt, das war echt. "Waren Sie schon in der Bahnhofsmission ?" Fragendes Gesicht: "Nein?!" "OK, ich führ Sie hin." Auf dem Weg kaufte ich ihm ein belegtes Brötchen und einen Tee. "Ich heisse Erwin"" Freut mich" und ich sagte ihm meinen Namen. Während wir so zusammen gingen mußte er immer wieder sehr stark husten. "Zuviele Zigaretten"krächzte er. Vor der Mission verabschiedete ich mich und gab ihm noch einen Zehner.
Fast ein Monat verging. Ich mußte die ganze Zeit an ihn denken. An einem Donnerstag kam ich mit dem Zug aus Hamburg. Im Bahnhof fiel mein Blick auf die Mission und ich ging einfach hinein und erkundigte mich nach Erwin. Die Frau mußte erst lange überlegen. "AAAch ja, Erwin... is ungefähr 4 Wochen her, richtig? So ein netter Kerl, wir haben ihn ins Krankenhaus gebracht, der war ja so erkältet. Eine Woche später war er wieder hier, hat von uns warme Klamotten gekriegt und einen neuen Schlafsack. Soll ich Sie anrufen, wenn er wieder auftaucht?" "Ja", und ich gab ihr meine Handynummer.
Der Anruf kam 3 Tage später: "Erwin is hier und es geht ihm garnicht gut. Er will aber nich ins Krankenhaus. Vieleicht könnten Sie.....?" Ich machte mich auf den Weg.
In einer Ecke des Raumes saß er dann, trank heissen Kaffee und machte ein trotziges Gesicht, was sich aber sofort aufhellte, als er mich sah. Seine Wangen waren noch eingefallener, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich habe eine sehr harte Art mich durchzusetzen, also saß er keine Viertelstunde später auf dem Beifahrersitz und ich fuhr ihn in die Klinik. Der junge Arzt begrüßte ihn wie einen alten Freund, untersuchte ihn und wies ihn ein. Ich hatte Gelegenheit, mit dem Arzt zu sprechen, so erfuhr ich die Geschichte: Erwin war Stahlkocher in Duisburg Rheinhausen. Bei einem Unfall wurde er schwer am Kopf verletzt. Seither hat er Gedächtnisstörungen, gelegentliche Aussetzer. Seine Frau hat ihn mit den Kindern verlassen, und so kündigte er die große Wohnung, die er von seiner kleinen Unfallrente nicht mehr bezahlen konnte. Er hatte aber nicht bedacht, daß er ja irgendwo wohnen mußte, und so landete er auf der Straße. Niemand vermietet ihm eine Wohnung und ins Asyl möcht Erwin nicht. Also lebt er auf der Straße.
"Wir behalten ihn eine Woche hier und päppeln ihn auf. Mehr kann ich von hier aus nicht für ihn tun." Ich besuchte ihn jeden Tag und als er entlassen wurde, holte ich ihn ab, ohne zu wissen, wohin. "Bring mich in mein Haus." Und er dirigierte mich an eine Stelle, die ich niemals erwartet hätte: Mitten im Autobahnkreuz gibt es einen Fußweg, der unter der Fahrbahn auf die dichtbewachsene Grünfläche führt, quasi im "Auge" der Autobahnabfahrt. Der Lärm war ohrenbetäubend. Wir folgten einem Trampelpfad. Auf einer ca 5 Meter großen Lichtung stand ein Zelt. "Voila, mein Haus." Das Zelt war eine ausrangierte Bundeswehr- Dackelgarage. " Erwin du kannst hier nicht wohnen bleiben, was machst Du im Winter?" "Hier fall' ich niemandem zur Last, und ich will auch nicht, daß Du mir etwas anbietest. Guck mal, ich habe sogar ein Fahrrad, können wir mal zum Baldeneysee fahren." Er ließ sich nicht abbringen. Wenigstens ein geräumigeres und stabileres Zelt und einen Polarschlafsack habe ich ihm aber doch noch gebracht. Die Jahre sind ins Land gegangen, wir haben uns oft getroffen, aber auch manchmal wochenlang nicht. Einige Male mußte ich ihn ins Krankenhaus bringen. Ansonsten war er sehr geschickt, konnte Malerarbeiten, Teppichverlegen, alles was einen guten Heimwerker ausmacht. So hat er mir in unserem Haus oft geholfen. Aber Geld dafür hat er nie angenommen (ich habs ihm einfach in die Jacke gesteckt). Auch meine Familie liebte ihn sehr : er konnte so herrlich Märchen erzählen. Manchmal gerieten diese Geschichten ins stocken, da wußte er nicht mehr wo er war. Die Kinder haben dann gelacht und er auch....
In diesem Winter war es sehr kalt und wir hatten lange nichts mehr von ihm gehört. Als der Schee kam, bin ich zum Autobahnkreuz gefahren um ihn zu uns zu holen. Es lagen fast 15 cm, das Zelt war unter der Schneelast zusammengebrochen, aber Erwin war nicht da. Ich sah auch keine Spuren, also dachte ich, er sei irgendwo anders untergekrochen. Ich stellte sein Igluzelt wieder richtig auf. Zwei Tage später fuhr ich wieder hin, diesmal war er "zu Hause". Er konnte nicht sprechen, sein Atem rasselte und seine fiebrigen Augen wollten mir etwas sagen. Ich rief die Polizei an, beschrieb die Situation und wo ich war. Dann lief ich den Trampelpfad, den Tunnel und den Fußweg entlang um die Ordnungshüter einzuweisen. Einige Minuten später waren sie da. Der jüngere von beiden fragte "Erwin?" Ich guckte erstaunt. "kennen wir, netter Kerl, will niemandem zur Last fallen. Wir warten noch auf den Notarzt. Kaum war der Wagen da ging es im Laufschritt duch den dicken Schnee. Wiedermal kam Erwin ins Krankenhaus. Diemal war es aber richtig schlimm. Er hatte eine dicke Lungenentzündung. Bei der Untersuchung stellten sie noch ein Lungenkarzinom fest. Ich war in den letzten Wochen oft bei ihm. Er hat nie wieder mit mir sprechen können.
Gestern abend ist er dann gestorben. Seine Exfau und auch seine inzwischen erwachsenen Kinder weigern sich, sich um den "Rest" zu kümmern....

Ich bin sehr traurig.
LadylikeKandis - 14. Mär, 23:27

mein freund heisst "cesar". ich traf ihn vor zwei jahren am alten markt. er ist epilepthiker...
wir tranken zusammen kaffee und erzählten uns damals viele geschichten über das leben.

ich habe ihn seit einem halben jahr nicht mehr an der stelle angetroffen. keine ahnung wo er ist, ob er noch lebt!

tja, so ist das leben. leider.

Breathless - 16. Mär, 14:27

ich habe jetzt erfahren, daß Erwin jünger war als ich. Er sah aus wie über 60, aber tatsächlich hat er die 50 nicht erreicht. Das Rauchen hat er nicht aufgeben können, aber ich habe ihn nie betrunken gesehen.
oh Mann, bin ich fertig....
yonosequepasara - 16. Mär, 14:36

Vorallem: Hut ab vor dir. Ich "kenne" nicht viele Menschen, die sich auf diese Weise so selbstverständlich engagieren. Traurige Geschichte.

Breathless - 16. Mär, 14:44

Der Mann war auch was ganz Besonderes....wir haben davon genauso "profitiert" wie er.
Der hatte sooo liebe Augen.
(so toll bin ich nu auch nicht. Wäre dabei Alkohol im Spiel gewesen, hätte ich das nicht machen können.)

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